Dr. Martin Lück
ist Leiter Kapitalmarktstrategie für Deutschland, die Schweiz, Österreich und Osteuropa bei BlackRock. In dieser Funktion verantwortet der promovierte Volkswirt seit Oktober 2015 das makroökonomische Research und die Investment-Einschätzungen von BlackRock in der Region.
Der Krieg gegen die Ukraine hat nach dem Corona-Schock erneut gezeigt, wie empfindlich eine weltweit vernetzte Wirtschaft sein kann, als wie gefährlich sich Abhängigkeiten erweisen können. Wird jetzt weltweit das Rad der Globalisierung ein Stück weit zurückgedreht? Und wie robust steht die Weltwirtschaft derzeit insgesamt da? Darüber spricht im Interview Dr. Martin Lück, leitender Kapitalmarktstratege beim US-Vermögensverwalter BlackRock. Befinden wir uns in einer Phase der Stagflation? Was sollten die Zentralbanken tun? Wie sind die Aussichten für Aktienmärkte, Anlegerinnen und Anleger?
Herr Dr. Lück, wie ernst ist heute die Gefahr einer Stagflation?
Martin Lück: Die Gefahr einer Phase mit hohen Teuerungsraten und stagnierendem Wirtschaftswachstum ist gerade sehr real. Die Energiepreise, die in Folge des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine schon stark gestiegen sind, werden vermutlich noch weiter steigen. Und wir sehen eine wirtschaftliche Abschwächung vor uns, deren Ausmaß wir noch nicht kennen. Üblicherweise hält Stagflation nur kurze Zeit an. Bei einer sehr schwachen Wirtschaftsentwicklung beispielsweise fällt die Inflation irgendwann in sich zusammen. Aber auch als Übergangsphänomen ist Stagflation für die Wirtschaft schädlich und bedrohlich.
Wird die gesamte Weltwirtschaft gleichermaßen betroffen sein oder einzelne Regionen in sehr unterschiedlichem Ausmaß?
Martin Lück: Die Weltwirtschaft wird nicht überall gleichermaßen getroffen. Europa ist von fossilen Energien aus Russland stark abhängig, Deutschland wohl am meisten. Dazu kommt die Abhängigkeit von industriellen Vorprodukten wie Kabelbäumen aus der Ukraine oder Industriemetallen aus Russland. Beides kann etwa die Automobil- oder auch die Chemiebranche hierzulande stark treffen. Der Krieg wird Europa viel stärker schaden als den USA oder etwa auch Japan – über die verschiedenen Wirkungskanäle wie Energiepreise, Lieferketten oder letztlich auch Sentiment. Wir haben Krieg vor unserer Haustür, die Bedrohung ist hier stärker spürbar als in anderen Teilen der Welt.
Ein sofortiger Verzicht wäre rein ökonomisch gesehen unverantwortlich.
Wie leicht kann sich Deutschland aus der Abhängigkeit von Energie aus Russland lösen?
Martin Lück: Der Ausstieg aus fossilen Energien ist ja beschlossene Sache. Wobei man gerade Gas noch für einige Zeit als Übergangstechnologie gesehen hat, weil dessen CO2-Fußabdruck etwas günstiger ist als der von Kohle und Öl. Aber der Druck zum Ausstieg ist jetzt erheblich größer geworden. Der Wirtschaftsminister hat in Aussicht gestellt: Bis Ende des Jahres werden wir unabhängig von Kohle und Erdöl aus Russland sein. Das geht ohne große ökonomische Schäden. Unabhängigkeit vom russischen Gashahn können wir so schnell nicht erreichen, zumindest nicht ohne die Gefahr weiter deutlich steigender Preise und einer Rezession. Bis 2024 könnten wir uns wohl beim Gas von Russland lösen. Ein sofortiger Verzicht wäre rein ökonomisch gesehen unverantwortlich. Moralisch dagegen hielte ich es für geboten, mit dem Aggressor Russland keine weiteren Geschäfte zu machen. Das ist eine sehr schwierige Abwägung.
Wie einfach können wir bei anderen Rohstoffen wie Aluminium und Nickel unabhängig werden?
Martin Lück: Auch das ist nicht allzu einfach. Solche Rohstoffe sind nicht beliebig aus anderen Quellen ersetzbar. Will man sie von woanders beziehen, lässt das die Preise steigen. Das kann zu höheren Produktionskosten führen.
Schon jetzt ist absehbar, dass sich als Folge des noch andauernden Kriegs Handelsströme und wirtschaftliche Verflechtungen wohl nachhaltig ändern – man hat gesehen, wie gefährlich Abhängigkeiten sind. Und US-Präsident Joe Biden hat gerade noch einmal das Prinzip „Buy American“ verstärkt. Beobachten wir gerade in verschiedenen Teilen der Welt eine Rückbesinnung nach innen, ein Zurückfahren der Globalisierung?
Martin Lück: Ganz eindeutig. Schon als Anfang 2020 mit dem Aufkommen der Corona-Pandemie die Lieferketten stillstanden, haben wir von einer Neuverkabelung der Globalisierung gesprochen – dass Firmen Lieferketten diverser und auch heimatnäher aufstellen wollten. Diese Tendenz erfährt jetzt noch einmal eine massive Beschleunigung. Die einzelnen Regionen wollen autarker werden. Uns in Europa betrifft das abgesehen von Energie aus Russland etwa auch bei industriellen Vorprodukten aus China. Umgekehrt will auch China sich mehr auf sich selbst besinnen. Als Folge findet auf der Welt eine Art Regionalisierunug statt. Höchstwahrscheinlich führt diese Entwicklung in der Fertigung zu höheren Kosten. Firmen geraten dadurch unter Druck, bei ihren Produkten hoch innovativ zu sein. Nur dann werden sie höhere Kosten an ihre Kunden weitergeben können.
Wir haben hier einen exogenen Preisschock, dagegen kann die EZB wenig tun.
Sie sprechen China an: Wie wird sich das Land in der aktuellen Situation positionieren?
Martin Lück: Die chinesische Regierung unternimmt derzeit alle Anstrengungen, sich neutral zu positionieren. Sie will weder die amerikanische und europäische Seite noch Russland verprellen. Bisher hat China sicher Russland stärker enttäuscht, indem das Land beispielsweise Anfragen zur Lieferung von Ersatzteilen für Flugzeuge abgelehnt hat. Sollte Russland einmal seine Energie nicht mehr nach Europa exportieren können, stünde China allerdings sicher bereit, einen Teil davon abzunehmen. So weit, Russland ebenfalls zu boykottieren, wird China wohl nicht gehen.
Wie wird das aktuelle Geschehen das Rennen zwischen China und den USA um den Spitzenplatz als größte Volkswirtschaft beeinflussen?
Martin Lück: 2001 ist China der WTO beigetreten. In den folgenden zehn Jahren hat die Globalisierung dann stark angezogen, seit 2010 verstärkt sie sich weltweit gesehen nicht mehr. Der Einfluss Chinas im Welthandel hat sich dennoch seither noch dramatisch vergrößert. Falls die Globalisierung ein Stück zurückgedreht wird, wird China davon stärker betroffen sein als die USA. Den Aufstieg Chinas zur größten Volkswirtschaft der Welt wird das allerdings höchstens etwas verlangsamen, nicht aufhalten.
Wie ist denn mit der derzeitigen Lage umzugehen? Die EZB scheint ja in einer Falle zu stecken.
Martin Lück: Eindeutig steckt die Europäische Zentralbank in einem Dilemma. Sie müsste langsam die Geldpolitik normalisieren. Wenn sie allerdings suggeriert, mit Zinserhöhungen ließe sich die durch die Energiepreise getriebene Inflation in den Griff bekommen, ist das Unsinn. Wir haben hier einen exogenen Preisschock, dagegen kann die EZB wenig tun. Das sollte sie in ihrer Kommunikation auch deutlich machen. Natürlich will die Zentralbank mit kernigen Aussagen klarstellen, dass sie mit einer strafferen Geldpolitik gegen eine Verfestigung der Inflation auf hohem Niveau vorgeht. Gleichzeitig ist absehbar, dass sie hier wegen der schwächelnden Wirtschaft demnächst zurückrudern muss. Als die EZB am 10. März für dieses Jahr 3,7 Prozent Wirtschaftswachstum für die Eurozone vorausgesagt hat, war die Zahl im Grunde schon überholt. Ich erwarte, dass die nächste Prognose im Juni so schwach ausfällt, dass die EZB signalisieren wird: Gegen hohe Energiepreise haben wir keine Mittel und die sich abschwächende Volkswirtschaft können wir nicht auch noch mit Zinserhöhungen ausbremsen.
Wahrscheinlich werden wir ein leicht negatives Aktienjahr bei den großen Indizes sehen.
Wird denn die FED an ihren geplanten sieben Zinsschritten für dieses Jahr was ändern?
Martin Lück: Auch die FED wird wohl irgendwann Bremseffekte eingestehen. Allerdings muss man einfach sehen, wie unterschiedlich die Regionen von der derzeitigen Entwicklung betroffen sind. Ich schätze, dass allein durch die schon jetzt absehbaren Auswirkungen des Ukraine-Kriegs das Wirtschaftswachstum in Europa dieses Jahr um drei Prozentpunkte schwächer ausfallen wird, in den USA dagegen wohl nur um einen halben Prozentpunkt. Die FED wird sich daher bei weitem nicht so schnell wie die EZB von ihrem Straffungskurs und ihrer kernigen Ansprache bei dem Thema verabschieden.
Besteht bei der aktuellen Situation Hoffnung auf ein positives Jahr an den Aktienmärkten?
Martin Lück: Derzeit tritt ein, was wir Anfang des Jahres in unserem Ausblick als Risiken genannt haben. Zur Eskalation in der Ukraine und der schwierigen Lage in der Zentralbank-Politik kommt noch Corona: 2022 wird wohl ein weiteres Pandemie-Jahr werden, wenn auch in schwächerer Form. Wir haben in unserer Empfehlung für Anleger das Risiko reduziert. Wir bleiben übergewichtet in Aktien, aber stellen uns vorsichtiger auf. Wahrscheinlich werden wir ein leicht negatives Aktienjahr bei den großen Indizes sehen. In Europa wird das Minus stärker ausfallen als in den USA.
Wie groß ist die Angst an den Aktienmärkten? Schaut man sich Risikoindikatoren wie den VIX an, liegt der nach einem kurzen Anspringen Ende Februar heute nicht höher als im langfristigen Durchschnitt.
Martin Lück: Man muss sicher sagen, dass ein gewisser Gewöhnungseffekt an schlechte Nachrichten eintritt. Hinzu kommt: Januar bis März waren eines der schlechtesten Quartale für Anleihen in der jüngeren Vergangenheit. Das ist eine Unterstützung für die Aktienmärkte. Es hält von Anleiheinvestitionen ab, Langfristanleger bleiben bei Aktien. Dahinter steckt aber sicher keine Euphorie, dass es den Unternehmen ganz toll geht, sondern eher Alternativlosigkeit. In einer solchen Lage sollte man sich einmal wieder erinnern, dass regelmäßige Einzahlungen mit Sparplänen eine gute Möglichkeit sind, kontinuierlich Vermögen aufzubauen.
Gerade in Zeiten von Knappheit und Lieferkettenproblemen ist eine Commodities-Beimischung sinnvoll.
Der Hinweis auf einen langen Anlagehorizont ist sicher wichtig, denn bei aktuell sieben Prozent Inflation schützen ja selbst Aktien kaum vor der Teuerung.
Martin Lück: Überschlagen wir mal den Ertrag eines Anleihe-Portfolios: Bei minus fünf Prozent Rendite und sieben Prozent Inflation komme ich hier real auf minus zwölf Prozent. Damit muss ich vergleichen, dann stehen Aktien deutlich besser da.
Immerhin lässt sich derzeit mit Gold und anderen Rohstoffen sogar noch davon profitieren, dass die Preise für Öl und Co. steigen. Eine sinnvolle Beimischung?
Martin Lück: Ob Energierohstoffe oder Industriemetalle: Gerade in Zeiten von Knappheit und Lieferkettenproblemen ist eine Commodities-Beimischung sinnvoll. Mit Blick auf die Rendite muss ich mich als Anleger da opportunistisch verhalten. Wenn ich aus moralischen Gründen zum Beispiel keine fossilen Rohstoffe mehr im Portfolio haben möchte, kann ich diese Entscheidung natürlich treffen. Aber de facto kann man mit Rohstoffen versuchen auszugleichen, was sich an anderer Stelle negativ aufs Portfolio auswirkt.
Herr Dr. Lück, danke für das Interview.
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