Sieben Gründe, warum der Mensch nicht zum Geldanlegen geboren ist

29. August 2019  |  Nicolas Zeitler
Sieben Gründe 1280
Wir überschätzen uns, ordnen Erfolge falsch ein und lassen uns von irrelevanten Zahlen leiten: Die menschliche Wahrnehmung ist oft verzerrt. Grund, das eigene Verhalten als Anleger zu hinterfragen – und ein starkes Argument für regelbasiertes Investieren.

Halten Sie sich für einen kompetenten Anleger? Falls Sie schon Gewinne mit Aktien gemacht haben, schließen Sie daraus womöglich, dass Sie die Börsenlage gut einschätzen können. Doch Sie sollten sich fragen, wie objektiv Ihre Selbsteinschätzung ist. Denn: Unser Gehirn mag auf das Überleben in einer feindlichen Umwelt trainiert sein. Aber es wurde nicht darauf getrimmt, an der Börse Gewinne einzufahren. Hier ist uns oft die eigene Psyche im Weg. Sie verzerrt unsere Wahrnehmung – das haben Wissenschaftler immer wieder nachgewiesen. Wir stellen sieben kognitive Verzerrungen vor und erklären, warum sie bei der Geldanlage so tückisch sind.

1. Selbstüberschätzung

Beim Autofahren wollen sich die meisten nichts vormachen lassen: Die große Mehrheit zählt sich zur besseren Hälfte der Fahrer – schon rechnerisch kann das nicht sein. Was polnische Psychologen 1989 beobachteten, haben viele Studien seither bestätigt: Menschen neigen zur Selbstüberschätzung. Overconfidence sagen Fachleute dazu. In einer finnischen Studie mit Führerscheinprüflingen bewerteten die, die durchfielen, ihr Können sogar am höchsten. Dass gerade Menschen mit wenig Ahnung auf einem Gebiet ihr Wissen überschätzen, zeigten auch die Psychologen Justin Kruger und David Dunning von der Cornell-Universität. Ihre Schlussfolgerung: Wer inkompetent ist, erkennt dadurch oft das eigene Unvermögen nicht. Dieser Zusammenhang ist als Dunning-Kruger-Effekt bekannt geworden.

Allerdings sind auch Experten nicht vor Selbstüberschätzung sicher. Für Finanzprofis haben das 2005 der Wirtschaftswissenschaftler Markus Glaser, damals an der Universität Mannheim, heute an der LMU München, und Kollegen gezeigt. Sie ließen Banker die Entwicklung von Aktienkursen und -indizes schätzen. Außerdem sollten die Versuchsteilnehmer schätzen, innerhalb welches Bereichs die richtige Antwort mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent liegt. Anschließend sollten sie angeben, für wie hoch sie ihre eigene Trefferquote und die der anderen halten. Ergebnis: Die Befragten überschätzten ihre eigene Leistung und hielten sich im Schnitt für besser als die anderen. Bemerkenswert: Die Overconfidence war bei den Finanzexperten höher als bei Kontrollgruppen von Wirtschaftsstudenten.

Fazit für Privatanleger: Erste Erfolge beim Aktienhandel sind kein Grund, sich für einen gewieften Investor zu halten. Und auch, wer Fachleute fragt, sollte vorsichtig sein: Womöglich schätzt auch der Berater von der Hausbank die eigenen Kenntnisse zu hoch ein.

2. Heimatliebe

Daimler, BASF oder Deutsche Telekom: Heimische Unternehmen tauchen besonders oft in den Medien auf. Vielleicht kennen wir auch Menschen, die dort arbeiten, oder wir fahren ein deutsches Auto. Die Folge: Diese Firmen sind in unserer Wahrnehmung stärker präsent als andere. Wir meinen, mehr über sie zu wissen. Das führt dazu, dass wir bevorzugt in sie investieren. Dieser Effekt ist bekannt als Home Bias, auf Deutsch: eine übergroße Neigung zum Heimatmarkt.

Erstmals beschrieben haben ihn 1991 die Wirtschaftswissenschaftler Kenneth French und James Poterba. Ihnen zufolge steckten die Aktieninvestitionen japanischer Anleger damals zu 98 Prozent in heimischen Werten, Amerikaner investierten 94 Prozent ihres Geldes im Inland. Wer dem Home Bias unterliegt, verstößt gegen einen der wichtigsten Grundsätze der Geldanlage: Diversifikation. Das kann bis zur starken Übergewichtung bestimmter Aktien gehen, mit teils negativen Folgen. In der Internet-Euphorie Ende der 1990er Jahre etwa setzten viele Deutsche bevorzugt auf Aktien vom Neuen Markt und verloren viel Geld.

Immerhin: Der Home Bias ist von 2005 bis 2015 in vielen Ländern zurückgegangen. Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft gewichteten deutsche Anleger heimische Aktien zuletzt um 44 Prozent höher als laut dem Modell der Wirtschaftsforscher angemessen. Zehn Jahre zuvor lag die Differenz zum optimalen Portfoliogewicht von heimischen Aktien noch bei 55 Prozent.

3. Orientierung an falschen Ankern

Menschen neigen dazu, sich bei Entscheidungen an Zahlen zu orientieren, die dafür keine Bedeutung haben. Selbst Experten lassen sich von diesem sogenannten Ankereffekt beeinflussen. Birte Englich von der Uni Würzburg legte Juristen einen wirklichkeitsnahen Fall einer notorischen Ladendiebin vor und ließ sie das vom Staatsanwalt geforderte Strafmaß erwürfeln. Was sie nicht wussten: Die Würfel waren gezinkt, so dass die Hälfte der Teilnehmer Einsen und Zweien würfelte, die andere Dreien und Sechsen. Allen war allerdings klar, dass die gewürfelte Zahl nichts mit dem Fall zu tun hatte. Dennoch fielen die Urteile derer, die höhere Zahlen gewürfelt hatten, härter aus.

Auch Anleger können dem Ankereffekt erliegen. Ein typischer Anker ist der Einstandskurs einer Aktie. Er hat zwar mit dem Wertpapier zu tun, taugt aber nicht als Bezugsgröße, um zu beurteilen, ob das Papier verkauft werden soll oder nicht. So behält der Anleger Titel, die im Wert gefallen sind, oft im Portfolio, in der Hoffnung, dass sie ihren Einstandskurs wieder erreichen – auch wenn er sein Portfolio durch einen Tausch viel besser aufstellen könnte.

4. Verfälschter Blick zurück

Die Vergangenheit beurteilen Menschen anhand von Informationen, die sie erst heute kennen. Dadurch wirkt das Geschehene vorhersehbarer, als es seinerzeit war. Psychologen nennen diesen Irrtum Rückschaufehler, auf Englisch Hindsight Bias. Wie Rückschaufehler Anleger beeinflussen können, haben Bruno Biais von der Universität Toulouse und Martin Weber von der Uni Mannheim gezeigt. Sie ließen Studenten die Entwicklung von Aktienkursen und Rohstoffpreisen vorhersagen. Eine Woche später nannten sie den Studenten die aktuellen Werte und forderten einen Teil von ihnen auf, sich an die eigene Schätzung zu erinnern. Die von den Teilnehmern aus dieser Gruppe genannten Werte lagen im Durchschnitt deutlich näher bei den tatsächlichen Kursen und Preisen als ihre Schätzungen eine Woche zuvor. Dass sie die neuen Werte kannten, beeinflusste ihre Erinnerung. Profis erliegen dem Effekt ebenfalls, wie Biais und Weber in Experimenten nachwiesen.

Wer sich den Hindsight Bias bewusst macht, sieht künftig eigene Gedanken wie „Ich wusste schon vor zehn Jahren, dass die Apple-Aktie durch die Decke geht“ in anderem Licht.

5. Fokussierung auf sehr präsente Informationen

Leicht verfügbare und sehr präsente Informationen prägen die Wahrnehmung besonders stark. Psychologen nennen das Phänomen Verfügbarkeitsheuristik oder Availability Bias. Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller von der Uni Yale hat untersucht, wie sich diese Verzerrung auswirkt. Er befragte von 1989 bis 2015 regelmäßig Privatanleger und Profi-Investoren, für wie wahrscheinlich sie einen Crash am US-Aktienmarkt in den kommenden sechs Monaten halten. Als Crash definierte er Kurseinbrüche innerhalb eines Tages von einem Ausmaß wie etwa am 19. Oktober 1987, als der Dow-Jones-Index 23 Prozent an Wert verlor.

Außerdem wertete er mit seinem Team Artikel aus dem Wall Street Journal von 1989 bis 2015 aus, in denen Begriffe wie „Aktienmarkt“ und „Wertpapiere“ vorkamen. Ergebnis: Negative Marktentwicklungen wurden häufiger und prominenter in der Zeitung dargestellt als positive. Dass die Befragten die Crash-Wahrscheinlichkeit zu hoch einschätzten, war somit fast erwartbar. Shiller stellte allerdings auch fest, dass sie besonders stark die Berichterstattung des Tages berücksichtigten, an dem sie den monatlichen Fragebogen ausfüllten.

Die von Shiller Befragten bewerteten die Crash-Wahrscheinlichkeit generell über, private Anleger stärker als professionelle. Auf die gesamte Zeitspanne gesehen erwarteten sie einen Einbruch der Märkte im nächsten halben Jahr im Schnitt mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als zehn Prozent. Historisch, Shiller stützt sich auf Marktdaten von Oktober 1929 bis Dezember 1988, liege das Risiko eines Crashs von diesem Ausmaß nur bei knapp zwei Prozent in sechs Monaten.

6. Autoritätshörigkeit

Menschen neigen dazu, sich auf Autoritäten zu verlassen oder sogar deren Anweisungen zu folgen. Besonders drastisch hat das Stanley Milgram in seinem Experiment von 1961 gezeigt, bei dem die Teilnehmer vermeintlichen Schülern auf Anweisung eines Versuchsleiters bei Fehlern Stromstöße versetzen mussten. Auch wenn es den Probanden widerstrebte, die Schüler zu quälen, fuhren sie selbst bei steigenden Stromstärken damit fort. Sie gehorchten der Autorität – Authority Bias nennt man das auf Englisch.

Anleger können bei Kauf- und Verkaufsentscheidungen dem Authority Bias erliegen. Die Autorität, der sie Glauben schenken, kann ein provisionsgetriebener Berater der Hausbank sein oder ein Crash-Prophet, der mit schrillen Warnungen in Talkshows auftritt. Die Bilanz von Crash-Propheten macht allerdings deutlich, dass es nicht ratsam ist, ihnen zu vertrauen. Jim Rogers etwa, US-Investor und früherer Hedgefonds-Manager, prophezeite Ende 2011 eine Krise, die noch schlimmer als im Jahr 2008 sein sollte. Zu der ist es allerdings bis heute, fast acht Jahre später, nicht gekommen. Das zeigt beispielhaft der Blick auf den US-Aktienmarkt. Im Krisenjahr 2008 verlor der S&P 500 fast 39 Prozent an Wert. Den größten Jahresverlust verzeichnete er seither 2018. Das Minus fiel mit sechs Prozent aber viel geringer aus. Und seit Rogers’ Warnung hat der US-Index in Dollar und inklusive Dividenden um gut 190 Prozent zugelegt.

Der Rat, nicht auf Experten zu hören, mag auf den ersten Blick im Widerspruch stehen zur eingangs geäußerten Warnung, das eigene Börsenwissen nicht zu überschätzen. Wenn ich selbst nicht weiter weiß, wem soll ich dann vertrauen, wenn nicht Leuten aus der Branche? Die Empfehlung lautet daher nicht, Expertenaussagen in jedem Fall zu ignorieren. Anleger sollten sich allerdings immer fragen, welche Motive dahinter stehen könnten, und sich selbst so gut wie möglich aus vertrauenswürdigen Quellen informieren.

7. Überforderung

Verzerreffekte wie die zuvor beschriebenen können zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken. Charlie Munger, der zusammen mit Warren Buffett an der Spitze der Investment-Gesellschaft Berkshire Hathaway steht, hat dafür den Begriff Lollapalooza-Effekt geprägt. Lollapalooza bedeutet im Umgangsenglisch so viel wie „Knaller“. Der Lollapalooza-Effekt wirkt aus Sicht von Munger, wenn mehrere kognitive Verzerrungen in Summe eine Situation schaffen, die den Einzelnen überfordert, sodass er nicht mehr klar denken kann.

Typisch sei das für Tupper-Parties, Treffen der Anonymen Alkoholiker oder Versteigerungen: Wenn bei einer Auktion Gebote in den Raum gerufen werden, diene das als Beleg dafür, dass dieses Verhalten angemessen sei – als „Social Proof“. Jedes einzelne Gebot animiere zudem zum Mitbieten: Hier wirke das Prinzip der Reziprozität, Verhalten anderer zu erwidern. Und wenn ein Mitbieter einem ein Objekt vor der Nase wegschnappe, melde sich der innere Drang, nicht verlieren zu wollen, das „Deprival Super-Reaction Syndrome“.

Für Munger ist der Lollapalooza-Effekt an sich weder gut noch schlecht. Bei den Anonymen Alkoholikern etwa profitierten davon viele Suchtkranke. Man müsse sich nur immer bewusst sein, dass die eigene Wahrnehmung manipulativen Einflüssen ausgesetzt sei: „Vielleicht denken Sie, solche Effekte spielen bei der Auswahl von Geldanlagen keine Rolle. Dann leben Sie aber in einer anderen Welt als ich“, so Charlie Munger. Ein typisches Beispiel, wie Anleger dem Lollapalooza-Effekt erliegen können: Sie bewerten Nachrichten über Börsenturbulenzen zu hoch, vertrauen einem Crash-Propheten, der zur gleichen Zeit vor einer Krise warnt, und verfallen dem Herdentrieb, wenn ihre Verwandten und Freunde aus Angst vor einer Krise ihre Aktien verkaufen.

Fehler vermeiden mit festen Regeln

Die genannten Verzerrungen zu kennen, hilft, das eigene Handeln zu hinterfragen. Im besten Fall schützt das vor falschen Anlageentscheidungen. Doch Fehler zu vermeiden ist noch keine Strategie. Und niemand wird es schaffen, alle Fehler auszumerzen. Wie also sollten sich Anleger verhalten?

Die Antwort: Sie sollten strikt regelbasiert anlegen. Das bedeutet, beim Investieren klar definierten, auf Daten statt auf Meinungen basierenden Entscheidungskriterien zu folgen. Dabei hilft Technologie. Denn, um es mit James O’Shaughnessy, einem der Vorreiter der regelbasierten Aktienanlage, auszudrücken: „Computermodelle haben keine Launen, keinen Streit mit ihrer Frau, keinen Kater von der Nacht zuvor.“

Bild: Stocker plus, shutterstock.com

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Nicolas Zeitler
Team Lead Editorial (Ehemals)
Nicolas hat sich als Redakteur auf die Themen Finanzen und Digitales spezialisiert. Bevor er 2019 zu Scalable Capital kam, leitete er die Finanzredaktion beim Vergleichsportal Check24. Erste journalistische Sporen verdiente er sich beim Münchner Merkur. Anschließend arbeitete er für das IT-Wirtschaftsmagazin CIO und die Agenturen Grasundsterne und Fischerappelt. Nicolas hat Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert.