Großbritannien im Jahr 1900. Königin Victoria ist 81, fast blind vom Grauen Star und wird vom Rheuma geplagt. Seit 63 Jahren sitzt sie auf dem Thron – eine Epoche, die als Viktorianisches Zeitalter in die Geschichte eingehen wird. Sie bescherte dem Königreich dank zahlreicher Kolonien und industrieller Revolution großen Wohlstand und sicherte ihm die Stellung als wichtigste Handelsnation. Doch die Zeichen stehen auf Wandel. Denn von der Industrialisierung profitieren inzwischen auch andere. Und die machen dem Empire seine Führungsrolle streitig. Das Deutsche Reich etwa, dessen Wirtschaft nach der Einigung von 1871 floriert. Und die USA, die sich auf der Weltbühne bald in den Vordergrund schieben werden. So brechen für England schwere Zeiten an, als Victoria am 22. Januar 1901 stirbt. Keine 20 Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, verdrängen die Vereinigten Staaten Großbritannien als führende Handelsmacht.
Ein Wachwechsel an der ökonomischen Weltspitze: Für die USA hat der Aufstieg zur Supermacht damit erst begonnen. All das lässt sich in Geschichtsbüchern nachlesen. Doch nicht nur dort. Der Aufstieg und Fall von Nationen spiegelt sich auch an den Börsen wider. Genauer gesagt: an der Zusammensetzung des Weltaktienmarkts. So war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Großbritannien die größte Börse mit einem Anteil von 25 Prozent an der globalen Marktkapitalisierung. Die USA lagen mit 15 Prozent auf Platz zwei. Heute hingegen liegt der US-Anteil bei mehr als 50 Prozent, während der britische auf rund sechs Prozent zusammengeschrumpft ist.
Hinweis: Weder vergangene Wertentwicklungen noch Prognosen haben eine verlässliche Aussagekraft über zukünftige Wertentwicklungen. Quelle: DMS Database; Elroy Dimson, Paul Marsh, Mike Staunton: „Triumph of the Optimists”; FTSE Analytics FTSE All-World Index Series; Credit Suisse
Das Auf und Ab anderer Länder lässt sich ebenfalls an den globalen Börsen ablesen. Am deutschen Aktienmarkt etwa haben die beiden Weltkriege tiefe Spuren hinterlassen. Sein Anteil sank in den vergangenen 118 Jahren von 13 auf 3 Prozent.
Auf eine bewegte Geschichte blicken auch die japanischen Investoren zurück. In dem Inselreich zogen die Aktienkurse bis 1939 stark an, bevor sie im Zuge des Zweiten Weltkriegs inflationsbereinigt mehr als 95 Prozent ihres Werts einbüßten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte Japan dann ein „Wirtschaftswunder”, das in den 80ern in einem gewaltigen Immobilien- und Aktienboom gipfelte. Er sorgte dafür, dass die Börse in Tokio zur größten der Welt aufstieg. Anfang 1990 machte sie mehr als 40 Prozent des globalen Markts aus, während die USA „nur” auf 30 Prozent kamen. Die Euphorie währte allerdings nicht lange: Die japanische Spekulationsblase platzte, und der Aktienmarkt ging auf Talfahrt. Heute steht Japan noch für gut acht Prozent des weltweiten Börsenwerts und notiert damit auf Rang zwei im internationalen Vergleich.
Und wie sieht es mit dem nächsten Wachwechsel aus? Wird China die USA dauerhaft als stärkste Wirtschaftsnation ablösen? Gemessen am absoluten Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegen die USA noch klar vorne. Betrachtet man jedoch das kaufkraftbereinigte BIP, hat China die USA schon vor vier Jahren überholt. Ein Blick auf die chinesische Börse ist dagegen erst mal ernüchternd. Aktuell hat sie nur einen Anteil von mageren drei Prozent am Weltaktienmarkt. Allerdings spiegelt diese Zahl den Anteil am FTSE-All-World-Index wider, in dem sogenannte A-Aktien, die in der Landeswährung Yuan notieren, (noch) nicht berücksichtigt sind. Zudem bemisst sich der FTSE-Anteil nicht an der gesamten Marktkapitalisierung, sondern am Free Float, also dem frei handelbaren Anteil der Aktien. Und der ist bei chinesischen Unternehmen oft relativ gering, weil der Staat große Aktienpakete hält. So ist Chinas Gewicht an den Weltbörsen schon jetzt größer, als es scheint. Und dieses Gewicht wird aller Voraussicht nach weiter steigen, wenn sich das Reich der Mitte als neue Supermacht etabliert.
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