
Hat Europa beim Megatrend Künstliche Intelligenz (KI) den Anschluss bereits verloren? Angesichts der Dominanz von US-Giganten und der rasanten Entwicklung in China scheint der Kontinent in eine Zuschauerrolle gedrängt zu werden. Doch wo genau steht Deutschland in diesem technologischen Wettlauf? In der neuesten Folge des Podcasts Asset Class gibt die KI-Gründerin und Unternehmerin Elisabeth L’Orange im Gespräch mit Christian W. Röhl eine schonungslose Analyse der Lage und zeigt auf, welche Hürden den Standort lähmen – und wo dennoch Chancen liegen könnten.
Elisabeth L’Orange hat bewiesen, dass es möglich ist, in Deutschland ein erfolgreiches KI-Unternehmen aufzubauen. Ihr Start-up Oxolo sammelte 13 Millionen Euro an Finanzierung ein und gewann über 600.000 Kundinnen und Kunden. Die ursprüngliche Vision war kühn: die Erstellung digitaler Kopien von Menschen, trainiert auf Basis ihrer Social-Media-Daten. Nach ersten Versuchen, digitale Avatare von Prominenten wie David Hasselhoff zu vermarkten, und einem Schwenk zu einem KI-gestützten Lernprodukt für Kinder, fand das Unternehmen seine Nische im E-Commerce. Oxolo ermöglichte es Online-Händlern, auf Knopfdruck professionelle Marketing-Videos mit menschlichen Darstellenden zu erstellen – eine Anwendung, die die Konversionsraten signifikant steigerte.
Doch der Erfolg wurde durch die europäische Politik jäh ausgebremst. Der sogenannte AI-Act, die KI-Verordnung der EU, schuf eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Da die Technologie von Oxolo auf echten Menschen basierte, deren Mundbewegungen per KI manipuliert wurden, drohte eine Einstufung als „Deepfake“ und damit die Zuordnung zu einer hohen Risikoklasse. Dies hätte massive Compliance-Vorschriften und die Pflicht zur Einblendung von Wasserzeichen bedeutet – ein klarer Wettbewerbsnachteil gegenüber US-Anbietern wie HeyGen. „Der AI Act hat die gesamte KI-Szene europaweit völlig überreguliert“, resümiert L’Orange die Situation. Rückblickend räumt sie jedoch auch eigene unternehmerische Fehler ein, wie eine zu späte Fokussierung und den kostspieligen Versuch, die gesamte Basistechnologie selbst zu entwickeln, anstatt auf bestehende Modelle zurückzugreifen.
Die überbordende Regulierung ist laut L’Orange nur ein Teil des Problems. Eine tiefere Ursache für die deutsche Zurückhaltung im KI-Sektor sei die mangelnde Kapitalkultur. „Die Deutschen sind halt sehr, sehr risikoavers“, stellt sie fest. Institutionelle Investoren in Deutschland investieren im Vergleich zu Frankreich nur einen Bruchteil in Venture Capital, was dazu führt, dass innovativen Unternehmen in entscheidenden Wachstumsphasen das nötige Kapital fehlt. Während in den USA Projekte wie „Stargate“ mit hunderten Milliarden Dollar KI-Infrastruktur aufbauen, fehlt in Deutschland oft schon die Basis.
L’Orange fordert daher ein radikales Umdenken und mutige Investitionen. „Wir müssen anfangen zu investieren. Wir müssen Datencenter bauen“, appelliert sie. Eine konkrete Idee sei die Schaffung einer staatlich subventionierten Cloud, idealerweise in einer Public-Private-Partnership mit Telekommunikationsanbietern. Dies würde nicht nur Start-ups den Zugang zu erschwinglicher Rechenleistung ermöglichen, sondern auch die Datensouveränität stärken, da sensible Informationen nicht zwangsläufig über amerikanische Server laufen müssten.
Trotz aller Herausforderungen ist Aufgeben für L’Orange keine Option. Der technologische Fortschritt sei nicht linear, und die nächste Innovationswelle könnte neue Chancen für deutsche Forschende und Gründende eröffnen. Schon heute zeichnet sich der nächste große Schritt ab: die sogenannte „Agentic AI“. In naher Zukunft, so ihre Prognose, werden KI-Systeme proaktiv und automatisiert Aufgaben für uns erledigen – von der Beantwortung von E-Mails über die Reiseplanung bis hin zur Organisation des Alltags. L’Orange schätzt, dass solche intelligenten persönlichen Assistenten bereits in etwa zwölf Monaten marktreif sein könnten.
Diese Entwicklung führt jedoch auch zu einer der größten Gefahren, die L’Orange in der KI sieht: die immense Machtkonzentration bei wenigen US-amerikanischen „Tech-Oligarchen“. Die Kontrolle über die Schlüsseltechnologie der Zukunft in den Händen weniger Akteure, deren Agenda nicht primär dem gesellschaftlichen Wohl diene, sei besorgniserregend.
Die Debatte um den KI-Standort Deutschland ist komplex und voller Widersprüche. Sie zeigt ein Land, das über exzellentes menschliches Kapital verfügt, sich aber durch Bürokratie und Risikoscheu selbst im Weg steht.
Die gesamte, tiefgehende Analyse von Elisabeth L’Orange, ihre Learnings als Gründerin und ihre Einschätzungen zur Zukunft der künstlichen Intelligenz hören Sie in der Episode von Asset Class.
Ob auf YouTube, Spotify oder bei Apple: die ganze Folge (und mehr) ist On-Demand zum Anhören und Ansehen verfügbar. Jetzt reinhören!
Hinweis: Scalable Capital Bank GmbH erbringt keine Anlage-, Rechts- und/oder Steuerberatung. Sollte dieser Podcast Informationen über den Kapitalmarkt, Finanzinstrumente und/oder sonstige für die Vermögensanlage relevante Themen enthalten, so dienen diese Informationen ausschließlich der Erläuterung der erbrachten Dienstleistungen. Die Kapitalanlage ist mit Risiken verbunden. Bitte beachten Sie hierzu die Hinweise auf unserer Internetseite.