„Wir leben in einer Welt des realisierten Wahnsinns”

30. Juli 2018  |  Tobias Aigner
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Dr. Martin Lück ist Chef-Investmentstratege von BlackRock.
Im Interview spricht er über die Hintergründe des globalen Handelsstreits und die neue Weltunordnung.
Martin Lück

Wird sich der globale Handelsstreit zuspitzen? Steuert die US-Wirtschaft nach neun Jahren Wachstum auf eine Rezession zu? Stürzt die neue italienische Regierung die Eurozone in die nächste Krise? Dr. Martin Lück beschäftigt sich täglich mit solchen Fragen. Er ist Chef-Investmentstratege beim weltgrößten Vermögensverwalter BlackRock. Scalable Capital hat ihn zum Gespräch getroffen – über den Verhandlungsstil von Donald Trump, die neue Weltunordnung und die Überlebenschancen des Euro.

Donald Trump hat einen Handelsstreit angezettelt, der die ganze Welt in Atem hält. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendwo neue Zölle angekündigt werden. Was will Trump erreichen?

Martin Lück: Drei Dinge muss man dazu wissen. Erstens: Trump ist überzeugt von seinem disruptiven Verhandlungsstil. Bestehende Verträge kippen, maximale Verwirrung stiften – das ist aus seiner Sicht die beste Taktik, um hart zu verhandeln und Top-Ergebnisse zu erzielen. Zweitens: Trump glaubt tatsächlich, dass die Amerikaner im Welthandel über den Tisch gezogen werden. Diese These hat er schon vor 30 Jahren in TV-Auftritten vertreten. Und drittens: Trump sieht die vermeintliche Ausbeutung Amerikas als Resonanzboden für seinen Wahlkampf. Am 6. November finden in den USA die Kongresswahlen statt. Die muss er gewinnen, sonst kann er sich seine großen Gesetzesvorhaben abschminken. Entsprechend hart geht er drauflos, um seine Kernwählerschaft bei der Stange zu halten. Das Handelsthema kommt ihm da gerade recht.

Diese Jammerei, dass der amerikanische Steuerzahler für die ganze Welt bluten muss, wird bis Anfang November nicht nachlassen.

Wird sich der Konflikt noch zuspitzen? Beim Treffen von Trump und Juncker sah es ja erstmals nach Entspannung aus.

Ob das Treffen wirklich schon das Ende des Handelsstreits zwischen den USA und Europa eingeläutet hat, bleibt abzuwarten. Generell wird Trump seine Rhetorik vorerst jedenfalls nicht entschärfen. Das hat man auch an seinen Tweets zur NATO gesehen. Da geht er ebenfalls auf die Europäer los, weil sie seiner Ansicht nach zu wenig bezahlen. Diese Jammerei, dass der amerikanische Steuerzahler für die ganze Welt bluten muss, wird bis Anfang November nicht nachlassen.

Und danach?

Trump weiß, dass er einen Handelskrieg nicht gewinnen kann. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schätzt, dass der Welthandel durch einen Handelskrieg um 70 Prozent einbrechen könnte. Alle würden dann verlieren, auch die USA. Deshalb denke ich, dass wir nach der Kongresswahl einen Deal sehen werden. Wahrscheinlich kommen wir sogar mit niedrigeren Zöllen raus als jetzt. Fakt ist aber: Es wird schlechter, bevor es besser wird.

Wie schlecht?

Wir leben heute in einer Welt des realisierten Wahnsinns. Das macht es unglaublich schwer, konkrete Prognosen zu erstellen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn tatsächlich noch weitere Zölle eingeführt und dann nach der Kongresswahl wieder abgeschafft werden.

2020 ist der nächste Wahltermin für Trump. Dann will er voraussichtlich als Präsident wiedergewählt werden. Auch dafür muss er sich in Stellung bringen.

Der Präsidentschaftswahlkampf wird erst beginnen, wenn Trump weiß, welchen Gegner er hat – vermutlich Anfang 2020. Er hat also gut ein Jahr, um ein paar vernünftige Deals zu machen. Diese Zeit wird er nutzen.

Ich sehe keine neue Weltordnung, nur eine neue Weltunordnung. Wir geben den schützenden Vertragsrahmen auf, ohne einen neuen zu schaffen. Das ist keine konstruktive Zerstörung à la Schumpeter, sondern eine disruptive. Und es ist gefährlich.

Trump sorgt nicht nur mit seiner Handelspolitik für Nervosität. Er hat auch das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt, ist aus dem Klimaschutz ausgestiegen und stellt das NATO-Beistandsprinzip in Frage. Will der US-Präsident eine neue Weltordnung schaffen?

Ich sehe keine neue Weltordnung, nur eine neue Weltunordnung. Wir geben den schützenden Vertragsrahmen auf, ohne einen neuen zu schaffen. Das ist keine konstruktive Zerstörung à la Schumpeter, sondern eine disruptive. Und es ist gefährlich. Denn selbst wenn es Trumps Strategie wäre, eine neue Ordnung herzustellen, bekommt er das nicht so einfach hin. Das Klima-Abkommmen wurde über Jahrzehnte verhandelt. Da kann man nicht einfach sagen, wir machen ein neues. Und für einen neuen Iran-Deal brauchen Sie eine bestimmte Konstellation an Verhandlungspartnern, die Sie so nicht mehr zusammenbekommen. Das Aufkündigen sicher geglaubter Vereinbarungen macht die Welt unsicherer und unberechenbarer. Das werden wir alle zu spüren bekommen: Für die Menschen wird es schwieriger, ihre Zukunft zu planen.

Versucht Trump nicht längst Partner für seine Weltordnung zu gewinnen. Man hat das Gefühl, er versteht sich mit Putin und Kim Jong-un besser als mit Merkel und Macron.

Trump ist jemand, der gern mit seinen breiten Hosenträgern knallt. Da fühlt er sich im Kreis von Putin oder Kim vermutlich wohl. Vor allem aber wird er von ihnen instrumentalisiert – und auch von Chinas Staatschef Xi Jinping. Nehmen Sie Trumps Ausstieg aus TPP, dem transpazifischen Freihandelsabkommen. Damit haben die Amerikaner die Chance für eine dominante Position in der Pazifik-Region einfach aufgegeben – und die Chinesen sind sofort eingesprungen. Oder das Treffen von Trump und Kim in Singapur: Das war ein riesiger PR-Coup für Kim. Dennoch glaubt Trump, es sei auch für ihn ein Gewinn gewesen.

Im Moment profitiert Trump auch von der brummenden US-Konjunktur. Allerdings erhöht die Notenbank Fed bereits die Zinsen. Wie akut ist die Gefahr für eine Rezession in den USA?

Gering. Wir sehen überhaupt keine Kenngrößen, die auf eine US-Rezession hindeuten. Weder bei den Kapazitätsauslastungen noch am Arbeitsmarkt.

Und was ist mit der Zinsstrukturkurve? Sie wird immer flacher. Wird sie invers – das heißt: steigen die kurzfristigen über die langfristigen Zinsen –, dann ist das ein starkes Warnsignal für die Wirtschaft.

Die Zinsstrukturkurve taugt derzeit kaum als Indikator. Aussagekräftig ist sie nur in der alten Welt, in der die Wirtschaftszyklen in Form einer Sinuskurve verlaufen. Diese Welt existiert heute nicht. In einem normalen Zinserhöhungszyklus hat die Fed früher innerhalb eines Jahres achtmal die Zinsen angehoben, insgesamt also um zwei Prozentpunkte. Diesmal hat sie für 1,75 Prozentpunkte schon zweieinhalb Jahre gebraucht, weil das nominale Wachstum nur ganz langsam zulegt und die Inflation so niedrig ist. Das unterscheidet die aktuelle Lage von früheren Zyklen.

Trump ist jemand, der gern mit seinen breiten Hosenträgern knallt.

Ob die Inflation niedrig bleibt, ist aber fraglich.

Inflationsgefahren sehe ich in den USA wirklich nicht. Der Arbeitsmarkt brummt, trotzdem sind keine signifikanten Lohnsteigerungen zu sehen. Und wenn man der Fed aufmerksam zuhört, merkt man, dass auch sie keine Angst vor Inflation hat. Sie will nur Munition für den nächsten Abschwung aufbauen. Deshalb hebt sie die Zinsen an und schrumpft die Bilanz.

Ist Inflation in der Eurozone auch kein Thema? Hier ist die Teuerungsrate im Juni auf 2,0 Prozent gestiegen. In Deutschland liegt sie sogar noch einen Tick höher.

Das ist vor allem auf den gestiegenen Ölpreis zurückzuführen. Die Kerninflation – also die Inflation ohne Energie- und Lebensmittelpreise – steht in Europa bei ungefähr einem Prozent und damit nach wie vor sehr niedrig. Und das, obwohl die Konjunktur angesprungen ist, die Arbeitslosigkeit sinkt, in der größten Volkswirtschaft Europas de facto Vollbeschäftigung herrscht und das umfangreichste monetäre Programm aller Zeiten läuft. Wenn bei diesen Megaeffekten keine Inflation aufkommt, wann dann?

Es kann sehr lang dauern, bis monetäre Maßnahmen wirken. Kritiker sprechen gern von der Ketchupflasche: Erst kommt gar keine Inflation, dann ein ganzer Schwall.

Ja, aber so lange dauert es auch wieder nicht. Wir müssten schon inflationäre Effekte sehen. Die größte Sorge der EZB ist, dass sie die zarte Pflanze der Inflation durch eine zu schnelle Normalisierung der Geldpolitik wieder austrocknet. Denn dann müsste sie die Geldschleusen wieder öffnen, und das wäre enorm schädlich für ihre Reputation. Deshalb schiebt sie die ersten Zinsschritte so enorm lang vor sich her.

Zum Jahreswechsel will die EZB auch ihr Anleihenkaufprogramm einstellen. Kann sie ihren Fahrplan zur geldpolitischen Normalisierung einhalten? Oder funkt ihr die neue italienische Regierung noch dazwischen, weil sie nicht viel vom Sparen hält und den Bürgern milliardenschwere Ausgaben versprochen hat?

Die EZB wird ihr Anleihenkaufprogramm planmäßig beenden. Das bedeutet allerdings nicht, dass die neue Regierung in Rom nicht noch mal für Unruhe sorgt. Lega und Fünf-Sterne-Bewegung – das ist ungefähr so, als würden AfD und Piratenpartei zusammen regieren. Die Regierung hat insgesamt Mehrausgaben von 100 Milliarden Euro im Jahr versprochen. Das ist natürlich Geld, das Italien nicht hat. Da würde das Haushaltsdefizit mal eben auf sportliche sieben Prozent steigen. Im Oktober muss Italien aber in Brüssel seinen Haushaltsentwurf für 2019 vorlegen. Wenn Rom seine Ankündigungen tatsächlich umsetzen will, dann gibt’s Ärger – das ist absehbar. Aber das wird die Finanzmärkte nicht dauerhaft belasten. Am Ende wird klar werden, dass Italien im Euro bleibt.

Ich schätze die Überlebenschancen des Euro ungefähr auf 70 zu 30.

Heißt das, der Euro überlebt und wir alle zahlen in zehn Jahren noch mit der Gemeinschaftswährung?

Vor sieben Jahren habe ich darauf mehrmals gewettet. Damals kochte die Eurokrise richtig hoch und viele dachten, den Euro gibt’s in zehn Jahren nicht mehr. In den kommenden zehn Jahren kommt es wahrscheinlich zur Entscheidung. Entweder geben wir den Euro auf oder wir streben eine viel tiefere Integration an. Letzteres wäre richtig. Das würde aber Zugeständnisse von allen erfordern. Deutschland müsste zum Beispiel mehr Transfers leisten und diese demokratisch legitimieren. Ich glaube, das wird kommen und der Euro wird in zehn Jahren noch unsere Währung sein. Ich muss aber sagen, dass ich die Wette heute mit weniger Überzeugung eingehen würde. Ich schätze die Überlebenschancen des Euro ungefähr auf 70 zu 30.

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Tobias Aigner
Tobias Aigner
EDITOR IN CHIEF (Ehemals)
Tobias ist Finanz- und Wirtschaftsjournalist mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Zuletzt arbeitete er als leitender Redakteur für das Wirtschaftsmagazin €uro. Zuvor war er für Capital, Börse Online, die Financial Times Deutschland und die Süddeutsche Zeitung tätig. In seinen Kommentaren, Analysen und Features setzte er sich vor allem mit den Themen Börse, Risikomanagement und regelbasierte Anlagemodelle auseinander. Tobias hat Physik an der TU München studiert.